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Text: Wolf Schneider
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Wolf Schneider war Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Washington, Verlagsleiter des Stern, Chefredakteur der Welt, Moderator der NDR-Talkshow und 16 Jahre lang Leiter der Henri-Nannen-Schule, danach 18 Jahre lang Lehrer an fünf Journalisten-Schulen. Er hat 27 Sachbücher geschrieben. Medienpreis für Sprachkultur der „Gesellschaft für deutsche Sprache“ (1994), Honorarprofessor der Universität Salzburg (2007), Henri-Nannen-Preis für das publizistische Lebenswerk (2011), Preis des Medium-Magazins für das journalistische Lebenswerk (2013). |
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Die Erschaffung der Welt findet in Hauptsätzen statt
Die großen Gefühle sind alle einsilbig: Glück, Lust, Hass, Wut. Viersilbige große Gefühle gibt es nicht. Sprachkritiker Wolf Schneider erklärt in seiner Rede "Bloß kein Kirchendeutsch – von Luther und Jesus lernen", warum man mit einfacher Sprache Herzen bewegt. Vom 3. Christlichen Medienkongress in Schwäbisch Gmünd, Januar 2014
Die Sprache Luthers zu übertreffen ist unmöglich, sie zu erreichen ziemlich schwer. Die Lutherbibel ist die Stiftungsurkunde der deutschen Sprache. Ich beneide keinen, der jeden Sonntag in sprachlicher Konkurrenz zu Luther treten muss. Es fragt sich nur, ob die Mehrheit der evangelischen Würdenträger so weit hinter Luther zurückbleiben muss, wie ich es hundertfach angetroffen habe.
Die „Süddeutsche Zeitung“ schickte mir vor ein paar Jahren 100 Weihnachtspredigten beider Konfessionen. Ich habe jetzt nur die evangelischen nachgelesen, mehrere evangelische Pressedienste haben mich mit Textproben versehen, ich war beim Landeskongress der evangelischen Kirche Sachsen-Anhalt vor zwei Jahren mit etlichen Texten konfrontiert und ich habe etliche Schriften der Bischöfe Huber und Schneider gelesen. Auf die werde ich mich besonders einschießen.
Sie hier im Publikum sind überwiegend nicht Theologen, sondern evangelisch engagierte Journalisten. Das Biblische, das Evangelische an den Mustertexten, die nicht von Ihnen sind, sondern von Leuten, mit denen Sie zu tun haben und die sie ihrerseits in journalistisch erträgliches Deutsch übersetzen sollen - die sind mein Thema. Vielleicht haben Sie anhand der allerschlechtesten Beispiele von zwei Bischöfen auch einen gewissen Zugang dazu. So was sollten sie nicht an die Presse weitergeben, wenn Sie der evangelischen Kirche einen Dienst tun wollen. Oder im Idealfall würden Sie die beiden Bischöfe beraten haben, so etwas gar nicht erst aufzuschreiben.
Ich habe dabei den Verdacht, dass hier ein Vorzug entfällt, den Luther noch hatte. Er hat ja die Theologie auf Latein studiert. Dadurch blieb sein Deutsch unverdorben. Das theologische Studium auf Deutsch hat alle Nachteile des Studiums der Geisteswissenschaften. Die „Neue Züricher Zeitung“ hat vor fünf Jahren eine große Untersuchung über die Sprache der Geisteswissenschaften gemacht, mit dem klaren Resümee: Letzten Endes ist der Ausweis der Wissenschaftlichkeit die Unverständlichkeit. Soziologen, Psychologen, Politologen usw. wünschen sich nicht normal auszudrücken. Professoren wollen nicht von Hinz und Kunz, sondern von Professoren verstanden werden.
Insoweit Prediger - wie ich hoffe - alle Gläubigen und Journalisten, möglichst viele Leser erreichen wollen, sind also alles akademische Gehabe, aller akademischer Prunkjargon, alle Wörter, die nur fünf Prozent der Deutschen verstehen, die absolute Pest. Gern behaupten ja die Leute, die sich so ausdrücken - also meine erklärten Feinde, die im akademischen Jargon verharrenden aller Branchen und heute meine ich die evangelischen Theologen: Das Schwierige lasse sich nicht in schlichten Wörtern und schlichten Sätzen ausdrücken. Dagegen steht erstens Luther, dagegen steht zweitens der ganze Heinrich Heine, der ganze Franz Kafka, der ganze Bert Brecht - der seinerseits die Bibel las -, der ganze Sigmund Freud, der großartiges, brillantes Deutsch geschrieben hat. Sie alle haben es fertig gebracht, in klarem Deutsch sehr schwierige Sachen auszudrücken. Der akademische Vorwand, so komplizierte Dinge wie ich kann ich nicht klarer sagen, ist erlogen, wichtigtuerisch, leicht widerlegbar. Dies ist zur Hälfte mein Thema.
Es gibt ja auch gute Texte. Ich habe zum Beispiel gelesen: „Die Kirche ist keine Zollstation. Sie ist das Vaterhaus, wo Platz ist für jeden mit seinem mühevollen Leben.“ Das war allerdings Papst Franziskus. Bischof Huber aber stellte in seinem Impulspapier von 2006 zwölf „Leuchtfeuer“ vor (ein schönes deutsches Wort, aber das war auch das Einzige). Das habe ich damals in meiner Sprachglosse im „Handelsblatt“ ausgewertet. Huber stellte die Frage, „welche qualitativen und strukturellen Umwandlungen die evangelische Kirche braucht, um den notwendigen Mentalitätswandel zu gestalten“. Ich stelle mir das Gespräch am Frühstückstisch vor: Was tust du gerade? Störe mich nicht, ich gestalte den notwendigen Mentalitätswandel. So spricht doch kein Mensch und so hat kein Theologe je zu sprechen.
Vielleicht hätte er einfach sagen können: Machen wir es wie Gorbatschow. Wer sich nicht wandelt, den bestraft das Leben. Bischof Huber hat auch von der „diskursiven Kraft der unterschiedlichen Positionierungen“ im Protestantismus geschrieben. Er hat mehr „kybernetisch-missionarische Kompetenz“ eingefordert und auch „situationsbezogene Flexibilität“. Wozu anzumerken wäre: Eine Flexibilität, die nicht zumindest situationsbezogen wäre, wäre ja sowieso keine.
Ich habe ihm damals im „Handelsblatt“ ins Stammbuch geschrieben: Wenn es großenteils die Sprache war, die einst dem Luthertum zum Sieg verholfen hat, so wird es solche Sprache sein, die seinen Niedergang beschleunigt. Dies ist meine redliche und durch zahlreiche Lektüre ganz gut abgestützte Meinung. Die „kybernetisch-missionarische Kompetenz“ hat ja zwei Kardinalfehler auf einmal, ebenso die „Apostolizität“, ein Wort auf das ich im letzten halben Jahr komischerweise ein Dutzend Mal gestoßen bin.
Wie viel Prozent der evangelischen Kirchgänger oder der Zeitungsleser wissen denn, was „kybernetisch-missionarische Kompetenz“ oder „Apostolizität“ bedeuten soll? Drei Prozent, fünf Prozent? Doch niemals jene 80 Prozent, auf die Journalisten immer zielen sollten und Prediger doch wohl bitte auch. Fünf Prozent sind ein Skandal, fünf Prozent sind ein Stück akademischer Hochmut, fünf Prozent sind ein Stück rätselhafter Gleichgültigkeit gegen die, die man doch erreichen will oder erreichen sollte.
Der andere Kardinalfehler der „kybernetisch-missionarischen Kompetenz“ und der „situationsbezogenen Flexibilität“ öffnet das Tor zu einer klaren Gebrauchsanweisung. Die „Apostolizität“ hat sechs Silben. Das „Eucharistieverständnis“, auf das ich vor ein paar Tagen stieß, hat sogar sieben Silben und „kybernetisch-missionarisch“ zusammen acht. Ein Wort ist aber umso verständlicher und umso kraftvoller, je weniger Silben es hat. Das sagt die Stilistik. Das sagt eine exakte Wissenschaft namens Verständlichkeitsforschung, die von keinem Deutschlehrer bestritten wird, die aber kein Deutschlehrer gelesen hat. Ich habe mit hundert Deutschlehren auf einer Veranstaltung des „Tagesspiegels“ in Berlin diskutiert: keiner kannte es und alle fanden plausibel, was ich sagte. Verständlichkeit ist nicht Bestandteil deutscher Lehrpläne, sondern die Feinheiten der Grammatik und die Propädeutik.
Die Einsilbigkeit regiert uns ja auf sehr einleuchtende Weise. Das demonstriert Luther, Arm in Arm übrigens mit Goethe, mit Schiller, mit Winston Churchill und auch mit Sepp Herberger. Ein sechssilbiges Wort habe ich in der Lutherbibel gefunden: „Erhebe dein Gebet für die Übriggebliebenen“ (2. Könige, 19).
In den 111 Versen der Bergpredigt aber gibt es nicht mal ein fünfsilbiges Wort, kein einziges. Die längsten sind viersilbig, davon gibt es 21 Viersilber auf 2.500 Wörter, heißt weniger als ein Prozent. Und was sind das für Viersilber: Die „Sanftmütigen“, die „Barmherzigen“, die „Ungerechten“. Dazu starke viersilbige Verben wie „widerstreben“, „ehebrechen“, „ausposaunen“. Und für ein so schönes, kraftvolles Wort mit roten Backen wie „ausposaunen“ darf man mal vier Silben verwenden. Es ist jedenfalls besser als die „Geschöpflichkeit“ in einer Rede von Bischof Schneider.
Einsilber sind in jedem Fall das Größte. Wir sind aus Einsilbern gemacht: Haut und Haar, Kopf und Fuß. Wir wohnen in Einsilbern: Haus und Herd, Tisch und Bett. Wir sind umgeben von Einsilbern: Feld und Wald, Stall und Kuh. Und das Beeindruckendste: Die großen Gefühle sind mit drei in der Stilistik bekannten Ausnahmen (Hunger, Liebe, Eifersucht) alle einsilbig benannt: Hass, Neid, Geiz, Gier, Wut, Angst, Scham, Schmach, Schuld, Leid, Pein, Qual, Schmerz, Glück, Lust - alles Einsilber. Viersilbige große Gefühle gibt es nicht.
„Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“: ein Zweisilber. „Stell dir vor es ist Krieg, und keiner geht hin“: ein Zweisilber. Goethes Schluss der Ballade vom Fischer: „Sie sprach zu ihm/ sie sang zu ihm / Da war's um ihn geschehn / Halb zog sie ihn, halb sank er hin /
Und ward nicht mehr gesehn.“ In einer Kette von mehr als 20 Einsilbern, durch zwei Zweisilber unterbrochen: das häufig als melodiösestes Bestandteil der deutschen Sprache beschriebene Gedicht.
Schiller: „Da treibt ihn die Angst / da faßt er sich Mut / und wirft sich (13 Einsilber hintereinander!) hinein in die brausende Flut / und teilt mit gewaltigen Armen / Den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.“ Statistik: 30 Wörter, 25 davon einsilbig, gleich 83 Prozent. Dazu ganze drei Zweisilber und zwei Dreisilber, nämlich „gewaltig“ und „Erbarmen“.
Schiller: „Und frei erkläre ich alle meine Knechte.“ Und eben nicht akademisch versaubeutelt: „Die Abhängigkeitsverhältnisse meines Dienstpersonals werden hiermit aufgehoben.“ Nein: „Und frei erklär ich alle meine Knechte.“ Das ist Luther, das ist Schiller, das ist Deutsch. Nur so möge man predigen und nur so sollten Sie, soweit die Vorlage es zulässt, schreiben.
Churchill ist berühmt dafür, dass er in seiner „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede mit vier uralten Einsilbern die Stimmung des britischen Volkes verwandelt hat. 1940 hatte Hitler Frankreich besiegt und machte England das Angebot: Lasst uns Europa, dann behaltet ihr euer Weltreich. Das fanden sehr viele Engländer sehr diskutabel. Und die Historiker sind sich einig: Mit einer einzigen Rede hat Churchill die Engländer für die Fortsetzung des Krieges gegen Hitler gewonnen und diese Rede kulminierte in vier uralten Einsilbern: „Ich kann euch nichts bieten als: blood, sweat, toil and tears.“ Toil, die Mühsal, haben wir unterschlagen in der deutschen Version. Blut, Schweiß und Tränen. Und er hat eben nicht aufgefordert zu einem Paradigmenwechsel in der britischen Einstellung zur Lebensqualität. Damit hätte er keine Herzen bewegt.
Was rief Sepp Herberger 1954 als Trainer der deutschen Fußball-Weltmeister? Er rief: „Stürmt, Leute, stürmt.“ Drei schöne Einsilber. Und wie hörte ich es kürzlich einen Fußballtrainer ins Mikrofon quatschen: „Wir müssen dem Spiel im offensiven Bereich mehr Impulse verleihen.“
Das ist der Abgrund und dieser Abgrund klafft auch zwischen zwei von mir zitierten Bischöfen und der deutschen Sprache. Mit drei Einsilbern hat US-Präsident Obama bekanntlich seinen Wahlkampf gewonnen: „Yes, we can.“ Und mit Einsilbern sollte man predigen und sollte man schreiben, wo immer es geht, wo man gelesen werden will. Faustregel an Pastoren: Ehe Sie in einer Predigt fünf Silben verwenden, machen Sie fünf Liegestütze.
Nach Bischof Huber nun Bischof Schneider: „Angesichts der Gott-Vergessenheit (fünf Silben) und des christlichen Traditionsabbruchs (fünf Silben) unserer Zeit brauchen wir eine neue Kreativität (fünf Silben) für das Zur-Sprache-Bringen (fünf Silben) der Befreiung, die uns Menschen im Kommen Christi zu Teil wurde. Wir brauchen eine theologische Sprache von Gott, die elementarisiert (sechs Silben), ohne zu simplifizieren (fünf Silben).“
Bei „elementarisieren“ habe ich kurz unterbrochen, um das Wort ausdrücklich zu küssen. Da geht leichter ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass Sie mit solchen akademischen Imponiervokabeln die Ohren oder die Herzen von Kirchgängern oder Zeitungslesern erreichen.
Meistens sind die kurzen Wörter ja zugleich die konkreten, die bildhaften, die herzhaften. Wir lieben ja die konkreten Wörter. Darf ich mal einen kurzen Test machen? Ich bitte um spontane Zurufe. Was ist ein Haustier? Hund, Kuh, Schwein, ja. Der Test hat wie in allen meinen Seminaren funktioniert: Kein einziger von Ihnen hat die Frage logisch richtig beantwortet. Gefragt war ja eine Definition. Was ist ein Haustier? Ein Haustier ist ein Tier, welches… Keiner von Ihnen wünschte eine Definition zu geben, sondern jeder hatte den normalen Impuls, den Sie als Generalimpuls ihrer Leser und aller Kirchgänger voraussetzen können: nämlich das Konkrete zu hören und nicht das Abstrakte, und wenn er das Abstrakte hört, Haustier, es sofort in das Konkrete zu übersetzen, überwiegend übrigens wieder in Einsilbern. Die Ziege ist zweisilbig, und die Katze auch; aber Schaf, Hund, Pferd, Kuh sind wieder einsilbig. Die konkreten, die saftigen Wörter innerhalb der Einsilbigen zu suchen ist natürlich das Größte.
„Seht euch vor, vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen. Inwendig aber sind sie reißende Wölfe.“ Da kommen ein paar Dreisilber vor, aber alles ist prall von Farben und Kraft. Mein schönster Satz aus der ganzen Lutherbibel in seinem gewaltigen Ingrimm heißt: „Die Geißel macht Striemen, aber ein böses Maul zerschmettert das Gebein.“
Ratschlag an Pastoren: Jeden Morgen vor einer Predigt beim Rasieren einen Satz von dieser Art sieben Mal halblaut vor sich hinsprechen. Man kann ihn wohl nicht verwenden, aber als Maßstab, um sich dessen zu genieren, was sonst über ihre Lippen käme. Das war ein Blick auf die überwiegend von Pastoren und Bischöfen produzierten Wörter.
Die Sätze sind oft genauso schlimm. Und nun produzieren wir mal den ersten. Die Kunst des Satzbaus. Thomas Kaufmann. Das ist ein Professor für Kirchengeschichte, einer dieser typischen akademischen Theologen. Er teilt mit: „Unter den frühen Epitheta, die auf Luther angewandt worden, dominieren solche, die....“ Bei „die“ beginnt ein Nebensatz von 63 Wörtern. Das ist schon mal ein bisschen heikel. Das „die“ ist aber nun das Subjekt des Nebensatzes, und dieses Subjekt braucht ein Prädikat. Und wo kommt das Prädikat? In der letzten Zeile „sahen“. Zwischen „die“ und „sahen“ 61 Wörter. Das Zehnfache des Zumutbaren. Was das Zumutbare ist, darauf komme ich gleich. Und darin nun noch mit äußerstem Mutwillen eine Parenthese von 45 Wörtern, der Einschub zwischen zwei Gedankenstrichen. Er hätte ja in Zeile drei, schon bei 16 Wörtern angelangt, sich vorstellen können, dass er nun sagt „sahen“. Nein, ich habe ja noch einen Einfall, und dieser Einfall ist 45 Wörter lang und die schieb ich nun auch alle vor das Prädikat dieses Satzes. Das ist eine Pirouette des schieren Irrsinns auf dem Hochseil der korrekten Grammatik.
Es ist also einerseits die totale Abwesenheit jedes Verständnisses dafür, dass es unmöglich ist, einen solchen Satz bei einmaliger Lektüre zu erfassen. Aber er spricht ja auch nicht dringend die Einladung aus: Ich bin so schön, lies mich zweimal. Oder es ist zweitens ein gewisser Hochmut, den ich bei einigen Redakteuren in den geistesgeschichtlichen Teilen der jüngsten Brockhaus-Enzyklopädie vermute und bei Feuilleton-Redakteuren der FAZ: Hör mal lieber Leser, dass ich diesen Satz noch zu einem grammatisch korrekten Ende bringe, da staunst du, das würdest du nie schaffen.
Das andere Beispiel stammt aus der Einladung zum Medienkongress. „Der für 2014 geplante dritte christliche Medienkongress wird (...) veranstaltet.“ Zwischen „wird“ und „veranstaltet“ stehen 80 Wörter. 40 bis 60 finde ich in jeder FAZ, im Feuilleton zumal, aber 80: Das ist wirklich seit Jahren meine schönste Fundsache. Noch in der drittletzten Zeile beginnt ein Einschub. Mindestens dies hätte ja nun wohl nachgetragen werden können. Aber nein, ich habe ja noch zusätzlich 28 Wörter, mit denen ich den Unfug in die Potenz erheben kann.
Das 14-fache des Zumutbaren, hab ich gesagt, was ist das Zumutbare? Wir empfinden die Gegenwart in einem Fenster von zwei bis drei Sekunden. Das ist der Zeitraum, der uns als lebendige Gegenwart erscheint, was wir ohne Mühe mit unserem Kurzzeitgedächtnis überbrücken können. Nur physikalisch gesehen ist die Gegenwart ein Punkt von unendlicher Kleinheit. Psychologisch dauert sie zwei bis drei Sekunden.
Beispiele: Die Lektüre fast aller Gedichtzeilen fast aller Kultursprachen dauert zwei bis drei Sekunden. Die Dichter hatten eben das natürliche Gefühl, dass dies uns eine angenehme Einheit ist. Eine Angenehmheit, auf die verschiedene deutsche und amerikanische Institute dann in den 80er Jahren methodisch gestoßen sind.
Die berühmten Schlagworte der Weltgeschichte schreien sich raus in zwei bis drei Sekunden. „Proletarier aller Länder, vereinigt euch.“ Die Gesten der Völker, von einem Max-Planck-Institut auf Kilometern Videofilm abgespeichert: Winke-Winke machen, Hände reiben, Vogel zeigen, Hände schütteln dauern zwei bis drei Sekunden. Ich habe, als ich das zum ersten Mal gelesen hatte vor 20 Jahren, mit einer Stoppuhr von der Empore eines großen Empfangs gemessen, wie lange die Händedrücke dauern. Ja, sie dauern zwei bis drei Sekunden. Wer mir die Hand nach früher als zwei Sekunden entzieht, hat offenbar was gegen mich. Schüttelt er sie länger, dann ist es entweder eine unverlangte Liebeserklärung oder es ist eine Fernsehkamera in der Nähe.
Also, dies ist eine Einheit, dass kann man den Leuten glauben, das haben auch die Berliner Deutschlehrer allesamt nicht bestritten. Die Frage ist nun: Wie viel kann man lesen oder hören in zwei bis drei Sekunden? Im Durchschnitt sechs Wörter oder etwas genauer gesagt zwölf Silben. Zwölf Silben haben die Wörter aber nur dann, wenn die „Paradigmenwechsel“ und „Apostolizitäten“ in ihnen nicht gehäuft vorkommen. Wenn Sie es genau wissen wollen, zählen Sie die Silben, sonst zählen Sie die Wörter.
Sechs Wörter – das gilt natürlich nicht, wenn Sie einen Text lesen von einem Mord in ihrem Nachbarhaus. Der kann geschrieben sein wie er will, den lesen Sie immer. Aber wir haben als Berufsschreiber und Pastoren, als Prediger mäßig interessante Texte mäßig interessierten Hörern oder Lesern anzubieten. Die rabiate Zuwendung, das äußerste Interesse könnte mal zehn Wörter oder zwölf Wörter zulassen, aber unser Alltag ist: Mehr als sechs schaffen sie eben nicht. Das ist ein realistischer hundertfältig erprobter Rat.
Der gilt nun einerseits für den Abstand zwischen Subjekt und Prädikat, das war das Beispiel eins, und andererseits für den Abstand zwischen Verb und Verb („wird…veranstaltet“), das war das Beispiel zwei. Und dieses Beispiel zwei ist ja der ganz große Ärger Deutsch lernender Ausländer und die Panik der Simultandolmetscher. Das schlichte Beispiel der Dudengrammatik für diese Tücke der deutschen Syntax lautet: Peter hat seinem Vater im Garten geholfen.
Uns fällt an diesem Satz nichts auf, aber Deutsch lernende Ausländer schütteln schon den Kopf. Englisch heißt es natürlich: Peter has helped his father in the garden. Also ich sage erstmal, was er getan hat, und dann kommen die näheren Umstände. Das wir das auf Deutsch andersrum machen, ist ein bisschen komisch. Wenn wir den Satz auf der Zunge zergehen lassen, finden wir ihn auch schon ein bisschen komisch: „Peter hat (ich sage jetzt nicht was er hat, ich sag erst mal wem. Nun sag ich dir immer noch nicht was er hat, ich sag dir erst mal wo und nun sag ich dir, was er hat) geholfen“.
Warum fällt uns dieser Satz nicht auf? Warum darf er stehen bleiben? Weil der Abstand zwischen „hat“ und „geholfen“ vier Wörter ist. Aber die Zahl der Wörter, die man in drei Sekunden lesen kann, ist im Großen und Ganzen bei mäßig zugewandten Lesern sechs. Es könnte also noch heißen: Peter hat seinem Vater bei Regen im Garten geholfen. Und damit wäre die Geduld und Aufnahmefähigkeit von 95 Prozent aller Leser und Hörer erschöpft. Nur dann würden Sie bei „geholfen“ noch wissen, dass es um den Vater und den Garten und den Regen ging.
Und was wir eben laufend lesen und viele Prediger produzieren, das sind Sätze von der Art: Peter hatte, obwohl gestern noch an Grippe daniederliegend und mit seinem Vater wegen einer sechs in Mathematik aufs heftigste überworfen, heute trotz strömenden Regens im Garten ihm – (vors Schienbein getreten oder geholfen?) Den Sinn stiftet das letzte Wort des Satzes. Den Leser länger als sechs Wörter auf den Sinn des Satzes warten zu lassen, ist eine Frechheit und eine Dummheit, denn verstehen kann er mich nicht mehr.
Für alle Simultandolmetscher ist es eine Qual, aus dem Deutschen zu übersetzen, wegen dieser Tücke der deutschen Syntax. Sie schaffen natürlich mehr als sechs Wörter. Ich habe im Laufe der Jahre auf verschiedenen internationalen Kongressen das Gespräch mit ihnen gesucht, denn der kleine Ärger unserer Leser („Ich verstehe das nicht“) ist ihr großer Ärger, ihre Panik. Sie können ihre Aufgabe nicht erfüllen bei solchen Sätzen. Sie schaffen nicht sechs Wörter, sondern nach Selbsteinschätzung zehn bis zwölf. Mehr als zwölf Wörter kann ein geschulter Berufszuhörer nicht aus seinem Kurzzeitgedächtnis reproduzieren. Wenn er also zwölf Wörter warten muss, um das sinnstiftende Verb „veranstaltet“ zu erfahren, so schafft er es gerade noch, nachträglich die elf Wörter nachzutragen, die davor waren. Aber bei 80 Wörtern ist er völlig verloren.
Was passiert, wenn er auf das Wort „veranstaltet“ wartet? Dann soll er 80 Wörter aus seinem Kurzzeitgedächtnis nachtragen. Erstens hat er dazu keine Zeit. Er könnte ja nicht dem nächsten Satz gar nicht lauschen. Und zweitens kann er unmöglich mehr als zwölf von den 80 Wörtern in die Fremdsprache übertragen. 68 Wörter bleiben also unübersetzt, was bei einem solchen Satz wirklich schade wäre.
Das ist die große Not. Unser Leser und unsere Hörer haben die kleine Not, sie artikulieren sich nicht. Sie nehmen halt in Kauf, dass sie nur die Hälfte verstanden haben oder sie schalten halt ab, hören auf, verschließen die Ohren, kauen Bonbons oder sonst was. Die Simultandolmetscher müssen ja und deswegen ist ihre Not zehn Mal so groß, aber von derselben Art. Da sie nun unmöglich 80 Wörter auf „veranstaltet“ warten wollen, weil sie dann 68 Wörter nicht mehr übersetzen könnten, neigen sie dazu, eine Vermutung über die zweite Hälfte des Verbes anzustellen. Aber diese Vermutungen meiden sie wie die Pest, denn damit kann man schreckliche Blamagen erleiden. Sie erzählen einander Anekdoten, um sich zu warnen, oder wahre Erlebnisse um sich zu warnen, wie eine Vermutung in die Hose gehen kann.
Eine Anekdote, die ich zwei Mal gehört habe: Historikerkongress, Krim-Krieg - „Kapitän Jones fiel im Krim-Krieg,….“ (Übersetzer beruhigt: Kann ich schon mal anfangen, der ist im Krieg gefallen.) „...nachdem er 21 feindliche Kanonen erbeutet hatte...“ (Übersetzer beruhigt: Dabei fällt man eben) „...auch in der Schlacht von Balaklava …“ (Übersetzer irritiert: wieso auch, ich denke er ist tot) „….durch ungewöhnliche Tapferkeit auf.“
Es gibt zwei oder drei Dutzend Verben im Deutschen, die schon ein selbstständiges ganzes Verb sein können, sich aber später als erste Hälfte eines zusammengesetzten Verbums herausstellen. „Die Schüler schlugen Otto“ grün und blau, nein: „zum Klassensprecher vor“. Nun stellen sie sich mal vor, sie lassen ihre Hörer oder Leser 80 Wörter in dem Glauben, er sei geprügelt worden, bis sie erfahren, nein, er ist vorgeschlagen worden. „Meine Frau trat nach mir“ (schöne Ehe!) „ebenfalls aus der SPD aus.“
Also: Vermutungen über die zweite Hälfte des Verbums anzustellen ist für Simultandolmetscher verboten, für unsere Hörer und Leser sowieso eine Zumutung ohnegleichen. Selbst wenn sie die richtigen Vermutungen hätten, wäre es doch eine maßlose egozentrische Einstellung zu sagen: Ich gehe mal davon aus, dass Du die richtigen Vermutungen hast. Ich muss es dir ja nicht lange erzählen. So geht man mit Lesern und Hörern nicht um.
Wie ist so was möglich? Weil eben die Deutschlehrer das nie vernommen haben, es ist nicht Gegenstand des Deutschunterrichts. Ich habe mir die Richtlinien für den Deutschunterricht in der Oberstufe von sämtlichen deutschen Bundesländern, sowie der Kantone Zürich und Bern kommen lassen und geprüft. Wörter wie Verständlichkeit, Lesbarkeit, angenehmes Lesen, lebendiges Schreiben, farbiges Schreiben, auf Leser zugehen, Leser dort abholen, wo sie sich befinden: Nichts davon kommt vor. Denen ist der Umgang mit Lesern vollkommen fremd.
Die klaren Sätze, die ich lobe – wo man nicht 80 Wörter dazwischen klemmt – müssen aber nicht ihrerseits immer kurze Sätze sein. Die Längenvorgabe in vielen Redaktionen heißt: Ein Satz soll nicht mehr als 15 bis 20 Wörter haben. Wenn mein Satz nur 20 Wörter lang sein darf, kann ich freilich nicht mehr 80 Wörter lang auf die zweite Hälfte des Verbums warten. Also insofern ist das schon ein kleiner Fortschritt. Aber dass Sätze mit 30 Wörtern schlecht sein müssten, ist völlig falsch. Und dass Sätze von zehn Wörtern gut sein müssen, ist auch falsch.
Ein Satz von neun Wörtern: „Vor vor dem Rathaus unbefugt abgestellten Fahrzeugen wird gewarnt.“ Neun Wörter, scheußlich. 30 Wörter, noch mal Schiller: „Da treibt ihn die Angst / da faßt er sich Mut / und wirft sich hinein in die brausende Flut / und teilt mit gewaltigen Armen / Den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.“ Ist da irgendwas zu lang? Der Satz strebt vorwärts. Da sind keine Girlanden eingehängt, da muss ich auf gar nichts warten.
Also Satzlänge macht es nicht. Der Satz sei schlank und transparent und vorwärtsstrebend. Dann darf er auch lang sein. Hauptsätze sind innerhalb der transparenten Sätze immer die erste Wahl; sie werden oft unterschätzt. Jede Handlung und jede Hauptsache muss in einem Hauptsatz stehen. Es ist ein lächerlicher Zeitungstext, zu schreiben: „Meier, der anschließend Selbstmord beging, ging vorher noch zum Scheidungstermin.“ Nein, dass er Selbstmord beging, ist natürlich ein zweiter Hauptsatz, eine zweite Handlung.
Sie sind sicher bibelkundig und wissen, wann der Gott des Alten Testaments den Nebensatz erschaffen hat. Am Abend des ersten Schöpfungstages. Nachdem er in vier Hauptsätzen zunächst Mal den ersten Teil der Welt erschaffen hat. Und am Abend des ersten Schöpfungstages erfand er den Nebensatz und der lautet: „Und Gott sah, dass das Licht gut war.“
Das ist keine Marotte von mir. Das ist kein Witzchen, sondern das ist genau die Psychologie des Nebensatzes. Die Erschaffung der Welt findet natürlich in Hauptsätzen statt. Nun hört das Handeln auf, nun sieht Gott sich nur noch um und nun hat der Nebensatz seinen Platz. Und der Nebensatz ist natürlich kurz. Die angehängten Nebensätze in der Bergpredigt sind maximal acht Wörter lang. „Dass es gut war“, sind nur vier. Angehängte kurze Nebensätze, wenn sie keine Hauptsache und keine Handlung mitzuteilen haben, sind etwas Schönes.
Aber die reinen Hauptsätze können auch in der Reihung großartig sein. Viele ganz große Sätze deutscher Sprache – kirchliche und nichtkirchliche – sind in schieren Hauptsätzen geprägt. Ich finde großartig den unglaublich schlichten Satz: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Im akademischen Deutsch: „Im Vertrauen auf die fürsorgliche Allgegenwart des Herrn, darf ich mir meiner Zukunft stets sicher sein.“
„Stell dir vor es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Ein gewaltiger Hauptsatz. Der Anfang von Rousseaus Gesellschaftsvertrag: „Der Mensch ist frei geboren, und liegt doch überall in Ketten.“ Die rhythmische Passage bei Goethe: „Der König sprach’s, der Page lief / Der Knabe kam, der König rief: / Lasst mir herein den Alten“. Großartig, vier lapidare Hauptsätze hintereinander.
Gandhi in seiner Autobiografie über das Wesen des passiven Widerstands: „Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie dich aus, dann bekämpfen sie dich, dann hast du gewonnen.“ Das hat doch was. Kein noch so verblendeter Deutschlehrer würde sagen: Herr Gandhi, wo bleiben die Nebensätze? Man braucht sie nicht. Und aus einer völlig unvermuteten Quelle, nämlich der Berliner SPD, kenne ich eine großartige Abfolge von drei Hauptsätzen. 1961, die Mauer ist gebaut. Die Westberliner SPD ist von ihren Ostberliner Genossen abgeschnitten und sie sendet über die Mauer den Gruß: „Wir danken allen. Wir vergessen keinen. Wir vergessen nichts.“ Das hat was.
Nebensätze dürfen natürlich auch sein, wenn sie kurz sind und elegant, auch längere Nebensätze. Lichtenberg ist immer wieder eine vorbildliche Lektüre für Journalisten. „Es gibt jetzt der Vorschriften, was man tun soll, so mancherlei Art, dass es kein Wunder wäre, wenn die Menge auf den Gedanken geriete, zu bleiben wie sie ist.“ Die ganz komplizierte, aber ich finde die schönste Liebeserklärung der Weltliteratur, nämlich die Kafkas an seine Freundin Felice. Beachten Sie die elegante Konstruktion kurzer Nebensätze, die mit Hauptsätzen abwechseln: „Ich erschrecke, wenn ich höre, dass Du mich liebst. Aber wenn ich es nicht hören sollte, wollte ich sterben.“ Ja, das ist Deutsch. Die Sätze sind schlank und transparent, die Wörter kurz, konkret und saftig.
Mit diesen beiden Generalregeln haben Sie drei Viertel aller Probleme der Verstehbarkeit und der Kunst, mit Worten zu wirken, gelöst. Dazu würden nun zwei klassische Stilregeln des Arthur Schopenhauer kommen. „Die erste Regel des guten Stils ist, dass man etwas zu sagen habe – oh, damit kommt man weit!“ Ob Sie nun etwas zu sagen haben oder ihre Auftraggeber, darüber habe ich kein Urteil. Aber für uns alle und für mein Thema gilt die andere königliche Stilregel von Schopenhauer: „Man brauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge.“ - „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Unglaubliche Aussagen mit den allersimpelsten Wörtern, die überhaupt zur Verfügung stehen.
Die „Apostolizität“ aber und die „kybernetisch-missionarische Kompetenz“ - das sind Wörter, um es zum Schluss mit einer bayerischen Redensart, Lutherdeutsch zu sagen, das sind Wörter, vor denen einer Sau graust.
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