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Titelstory von:
Jan-Hinrik Schmidt
Bild: © 31M

 

 
   

 

Jan-Hinrik Schmidt, Jahrgang 72, ist wissenschaftlicher Referent für digitale interaktive Medien und politische Kommunikation. Seine Forschungsinteressen umfassen Entwicklungen rund um die onlinebasierte Kommunikation, insbesondere die Praktiken des Identitäts-, Beziehungs- und Informationsmanagements. Weitere Informationen sind in seinem Weblog unter www.schmidtmitdete.de zu finden.  
   

 

 

 

 

 

 

Zum Strukturwandel von
Kommunikation im Web 2.0

Bereits in den 1990er Jahren, als das Internet sich erst zu verbreiten begann, wurde deutlich, dass es vertraute Grenzen zwischen Kommunikationsmodi aufhebt: Auf der Grundlage ein und derselben Medientechnologie ist sowohl interpersonale Kommunikation (z.B. E-Mail), gruppenbezogene Kommunikation (z.B. in Foren) als auch Massenkommunikation (z.B. durch journalistische Angebote im WWW) möglich. Jüngere medientechnische Innovationen und die mit ihnen einhergehenden Nutzungspraktiken, die auch unter den Schlagworten vom "Web 2.0" bzw. "Social Web" zusammengefasst werden, haben diese Entwicklung noch verstärkt.

Facebook und YouTube, Blogs und Twitter – sie alle senken die technischen Hürden für das Präsentieren, Aufbereiten und Verbreiten von Inhalten, auch und gerade im Zusammenspiel mit anderen medientechnologischen Innovationen wie digitalen Kameras oder Smartphones. Dadurch unterminieren sie ein zentrales Merkmal der Massenkommunikation: Die Rollentrennung zwischen "Sender" und "Empfänger" bzw. zwischen einigen wenigen, nach professionellen Kriterien und Routinen tätigen, redaktionell organisierten publizistischen Akteuren auf der einen und dem verstreuten Massenpublikum auf der anderen Seite. Social-Web-Nutzer lassen sich aber nicht mehr auf die Rolle als reine Rezipienten oder Konsumenten von Medieninhalten reduzieren. Sie können selbst Informationen aller Art mit anderen teilen und so zum "produzierenden Nutzer" bzw. zum "Produser" (www.produsage.org/) werden.

Diese Entwicklung lässt einen neuen Typ von Öffentlichkeit entstehen, den man "persönliche Öffentlichkeiten" nennen kann. Er verweist darauf, dass im Social Web kommunikative Räume entstehen, in denen Menschen Inhalte aller Art miteinander teilen, dabei aber andere Selektions- und Präsentationsregeln anwenden als professionell-journalistische Öffentlichkeiten (vgl. beispielhaft auch Abbildung 1):

a) Themen und Informationen werden aufgrund persönlicher Relevanz ausgewählt und präsentiert, nicht auf der Grundlage institutionalisierter Nachrichtenfaktoren bzw. eines Anspruchs auf gesellschaftweite Relevanz.

b) Die Kommunikation richtet sich nicht an eine disperse unbekannte Masse, sondern an ein (intendiertes) Publikum, das sich aus dem eigenen sozialen Netzwerk zusammensetzt, also aus Personen, zu denen in der Regel eine (wie auch immer geartete) Beziehung besteht.

c) Schließlich ist der vorherrschende Kommunikationsmodus die "Konversation", nicht das "Publizieren": Persönliche Öffentlichkeiten sind auf Dialog und Feedback ausgerichtet, nicht auf das einseitige "Senden". Kommunikative Leitbilder wie Authentizität und Subjektivität besitzen stärkeres Gewicht als die im Journalismus vorherrschende Norm der Objektivität.

Abbildung 1: Kommunikation in persönlichen Öffentlichkeiten

Auch wenn persönliche Öffentlichkeiten also andere Merkmale als die etabliert-professionellen Öffentlichkeiten des Journalismus aufweisen, sind sie mit ihnen doch eng verzahnt. Meldungen, Themen oder Inhalte, die aus den "Mainstream-Medien" stammen, machen einen substantiellen Anteil der Kommunikation in den persönlichen Öffentlichkeiten aus: Artikel aus klassischen Medien werden in Blogs aufgegriffen und kommentiert, auf Twitter oder Facebook verlinkt. Dies wird dadurch begünstigt, dass zahlreiche journalistische Online-Angebote inzwischen eigene Twitter-Accounts führen oder den "Gefällt mir"-Button von Facebook auf den eigenen Seiten integriert haben. Indem sie ihre professionell erstellten Inhalte in die "Laienöffentlichkeiten" einspeisen, stoßen sie nicht nur Konversationen mit den "people formerly known as the audience" (www.archive.pressthink.org/2006/06/27/ppl_frmr.html) an, sondern lenken auch Nutzer auf ihre Seiten.

Unter Umständen greifen publizistische Angebote auch auf nutzergenerierte Inhalte zurück oder beobachten die Laienöffentlichkeiten, um sich entwickelnde Themen identifizieren zu können. Dies betrifft insbesondere spektakuläre Ereignisse, bei denen zunächst keine Journalisten vor Ort sind – so stammte das erste Foto des 2009 im Hudson River notgelandeten Flugzeugs vom Passagier einer Fähre, der zufällig vor Ort war und das Geschehen auf Twitter verbreitete (www.twitpic.com/135xa). Aber auch bei den Demonstrationen und Revolutionen in Nordafrika waren Augenzeugenberichte, die mit Hilfe von Mobiltelefonen, Multimediaplattformen wie Flickr und YouTube sowie Facebook und Twitter verbreitet wurden, eine wichtige Informationsquelle für die massenmediale Berichterstattung.

Diese wechselseitige Verzahnung von persönlichen Öffentlichkeiten mit professionell-journalistischen Öffentlichkeiten spielt sich in Kommunikationsräumen mit einer ganz eigenen Architektur ab: Das vorherrschende Modell für die Art der Informationsdarbietung in vernetzten Öffentlichkeiten ist nicht mehr die "Sendung" oder die "Ausgabe", sondern der "stream" oder der "feed". Auf Twitter oder Facebook dominiert der dynamische, ständig aktualisierte Informationsfluss, in den die entbündelten, also aus redaktionell zusammengestellten Angeboten herausgelösten Informationen genauso eingehen wie andere Neuigkeiten, die aus dem eigenen Netzwerk stammen. Nutzer können einzelne Inhalte aus dem Stream aufgreifen und einfach weiterverbreiten, kommentieren, empfehlen o.ä. – es kommt zu einer Konvergenz von Konversation und Publikation. Das Filtern und Lenken von Aufmerksamkeit verschiebt sich somit von den wenigen journalistischen Gatekeepern hin zum jeweils individuellen Netzwerk. Der Facebook-Newsfeed oder die Twitter-Timeline sind hochgradig personalisiert, weil jeder Nutzer selbst sein Kontaktnetzwerk – und damit seine eigenen Filter – zusammenstellt.

Sind damit die alten medientheoretischen Hoffnungen und Utopien verwirklicht, nach der sich Machtverhältnisse und Ungleichheiten auflösen, weil jede Person zum Sender werden könne? Leider nein, denn in gleich zweifacher Hinsicht entstehen neue machtvolle Positionen.

Zunächst sind nicht alle Nutzer gleich – denn auch in den Öffentlichkeiten des Social Web entsteht ein für Netzwerke typisches hierarchisches Muster: Einige wenige zentrale "Knoten" bündeln viel Aufmerksamkeit; ihnen steht ein großer "long tail" von Angeboten gegenüber, die jeweils relativ wenig Aufmerksamkeit erhalten. Diese Struktur begünstigt Schneeballeffekte bei der Verbreitung von Informationen: Wenn aufmerksamkeitsstarke Nutzer bzw. Angebote eine bestimmte Nachricht aufgreifen, wirken sie als Multiplikatoren, die Anschlusskommunikation und weitere Verbreitung bei einer Vielzahl von Nutzern anstoßen. Damit kommt ihnen aber auch eine gewisse Verantwortung zu.

Schwerer wiegt allerdings die immense Bedeutung der Anbieter von medientechnologischer Infrastruktur, über die wachsende Teile der individuellen wie gesellschaftlichen Kommunikation organisiert werden. Unternehmen wie Google, Apple, Microsoft oder Facebook besetzen Schlüsselstellen der Informationsgesellschaft, weil sie die Kommunikationsplattformen und -werkzeuge gestalten, als Vermittler zwischen Anbietern und Nutzern auftreten sowie über umfangreiche Datensammlungen verfügen. Mechanismen und Prinzipien der demokratisch legitimierten Partizipation und Kontrolle über die Gestaltung dieser neuen Medienräume und Technologien bilden sich erst allmählich heraus – oft durchaus in Konflikt zwischen wirtschaftlichen, politischen und zivilgesellschaftlichen Interessen. Wie sollen beispielsweise softwareseitig die "Standardeinstellungen" zum Schutz persönlicher Daten und Privatsphäre gestaltet werden? Und wie die Algorithmen, mit denen Informationen vorgefiltert und in Rangfolgen gebracht werden? Und wie sollten soziale Beziehungen softwareseitig abgebildet werden, die im "echten Leben" ungleich nuancierter und komplexer gelebt werden, als es die binäre Unterscheidung "Freund oder Nicht-Freund" nahe legt?

Für bürgerschaftliche Kommunikation ist das Social Web somit Chance und Herausforderung zugleich. Es ist Chance, weil es Werkzeuge zum Austausch, zur Vernetzung und zur Mobilisierung zur Verfügung stellt, sodass Menschen ihre Interessen und Anliegen gemeinsam mit anderen vertreten können. Es ist aber auch Herausforderung, weil es mit einem tief greifenden Strukturwandel von Öffentlichkeit einhergeht, der gesellschaftlich gestaltet werden will. Hierin liegt eine Schlüsselaufgabe der Informationsgesellschaft im 21. Jahrhundert: Gesellschaftliche Institutionen und die Nutzer müssen sich mit diesen Entwicklungen beschäftigen und sie so weit wie möglich partizipativ begleiten, anstatt sie einzig einer vermeintlichen "Techniklogik" (hinter der letztlich immer auch ganz spezifische Interessen stecken) zu überlassen.

 

Leseempfehlungen

Bruns, Axel (2008): Blogs, Wikipedia, Second Life, and beyond. From production to produsage. New York.

Münker, Stefan (2009): Emergenz digitaler Öffentlichkeit. Die sozialen Medien im Web 2.0. Frankfurt am Main.

Neuberger, Christoph/Nuernbergk, Christian/Rischke, Melanie (Hrsg.) (2009): Journalismus im Internet: Profession – Partizipation – Technisierung. Wiesbaden.

Schmidt, Jan (2009): Das neue Netz. Merkmale, Praktiken und Konsequenzen des Web 2.0. Konstanz.

 

nach obeN

     
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