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Dr. Siri Fuhrmann, geboren 1976, ist wissenschaftliche Assistentin an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Als Liturgiewissen-schaftlerin denkt sie u.a. über Sinn und Funktion von Riten in Christentum und Gesellschaft nach. |
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erhaben/banal: Warum wir Rituale lieben.
Noch in den 70er Jahren galten Rituale als verpönt; das Wort „Ritual“ diente gar als Schimpfwort in der Politik. Wenn jemands Rede als „ritualisiert“ stigmatisiert wurde, dann galt das als Synonym für „inhaltsleeren Konformismus“. Dieser Mensch folgte nicht seinem eigenen Urteil, sondern verhielt sich gesellschaftskonform, glaubte aber selbst nicht, was er sprach.
Wenn Sie dieser Tage in die Auslagen der Buchhandlungen schauen oder das Google-Orakel befragen, werden Sie feststellen, dass Rituale schwer in Mode gekommen sind: Rituale für jedwede Art von Sinnkrisen und Lebenssituationen überfluten den Markt – ganz klassisch zu den Knotenpunkten des Lebens Geburt, Hochzeit und Tod; aber auch zum Erwerb des Führerscheins, als Übergangsgestus bei gerichtlichem Erfolg der Scheidung oder dem nächsten Karrieresprung. Die merkantile Beliebtheit von Ritualen ist noch eine recht junge Liebe, die sich die Frage gefallen lassen muss, ob alles, was als „Ritual“ angeboten wird, auch wirklich ein solches ist.
Warum Menschen Rituale lieben – hier der Versuch einer Erklärung, die, nicht in erster Linie religiös, sondern vom Alltag her entwickelt, nicht nur der Neigung zum Ritual, sondern auch seinem Wesen nachgehen will.
„Alltag“ umschreibt die Situation, in der ich mich „normalerweise“ befinde: Wenn ich also einkaufen gehe, mich auf dem Weg zur Arbeit befinde, wenn ich allabendlich fernsehschaue – immer bin ich umgeben von einer mir vertrauten Alltagswelt. Ich verhalte mich in ihr auf eine bestimmte Weise, und der Art, wie ich mich verhalte, ist eine Fülle unhinterfragten Wissens vorausgesetzt. Ich befinde mich in einem zuverlässigen Hier und Jetzt; zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort; Koordinaten, von denen ich ganz selbstverständlich annehme, dass sie auch für die anderen real und wirklich sind: morgendliches Zähne putzen, zur Arbeit fahren, der Einkauf beim Discounter nebenan, Fernsehen am Ende des Tages. Viele Abläufe dieses Alltags wiederholen sich. Diese Dinge werden mit Routine durchgeführt, d.h. es bedarf dabei keiner größeren intellektuellen Anstrengung. Durch die Wiederholung einer Handlung werde ich mit den Abläufen vertraut. Auf diese Weise werden Kräfte freigesetzt, damit ich mich auf das Unvorhergesehene, das Besondere konzentrieren kann: Dass ich meinem Sohn gleich noch seine morgendliche Medizin zu geben habe; dass die A40 in Essen-Zentrum gesperrt ist und ich eine Umleitung werde nehmen müssen, die möglichst nicht alle anderen Autofahrer genauso wählen; dass ich nicht nur meine Lieblingsschokolade, sondern auch für das Abendessen mit Freunden einkaufe; dass ich im Anschluss an die Tagesthemen noch eben mein Jackett für den Vortrag am nächsten Tag aufbügeln sollte. Routinen sind also keineswegs bloße Formalismen, sie bewirken ganz lebenspraktisch eine Reduktion der Bewusstseinsspannung, um Raum für anderes zu lassen.
Routine des Alltags
Ritus und Ritual sind also Routinen des Alltags. Selbstverständlich handelt es sich bei religiösen Riten um eine ganz bestimmte Sorte alltagsweltlicher Routinen; sie greifen auf anthropologische Grundvollzüge zurück, die es in allen Kulturen gibt und die allgemein verständlich sind: sich waschen, kosmetisches oder medizinisches Salben, Essen und Trinken in Gemeinschaft, Licht anzünden, wenn es dunkelt. Darin mag der Grund liegen, warum Rituale uns „berühren“: sie spielen mit dem, was uns absolut vertraut ist, um uns zu überführen zu dem, was uns gänzlich unvertraut ist.
Routinen vermitteln solche Vertrautheit. Eben darin liegt ihr sozialer Sinn: Sie zeigen den jeweils gerade begangenen Ausschnitt der Welt zuverlässig an. Wenn ich in dem üblichen Supermarkt meine Lieblingsschokolade suche, kann ich in der Regel davon ausgehen, dass sich sie an einer bestimmten Stelle im Regal finden lässt – jedenfalls bin ich sauer, wenn das nicht der Fall ist. Wenn ich auf dem Weg zur Arbeit immer eine bestimmte Route benutze, gehe ich davon aus, dass ich auch an diesem Tag auf diesem Pfad zu meinem Schreibtisch finden werde. Wenn ich allabendlich nach den Tagesthemen ins Bett zu gehen pflege, kann deren Verschiebung im Programm erhebliche Konsequenzen für meinen Schlafhaushalt mit sich bringen.
Symbolische Alltagsroutine
Symbole zeigen etwas von außerhalb an, etwa aus der Welt des Traumes, oder der Welt des Unbewussten oder der Religion. Symbole verweisen in diesem Sinne auf Transzendentes, auf etwas, das die Alltagswelt überschreitet, wie z.B. die rote Rose, die mein Mann mir als Ausdruck seiner Liebe verehrt. Sie machen das, was alltagsweltlich nicht unmittelbar sichtbar ist, zeigbar, benennbar, begreifbar. Und noch mehr: Symbole verweisen nicht nur auf etwas anderes, sie transportieren die Wirklichkeit des Anderen.
Was für Symbole gilt, beschreibt auch das Wesen von Ritualen, denn Rituale verwenden ganz offensichtlich Symbole; mehr noch: Riten sind die kommunikativen Handlungsformen, die Vollzugsformen von Symbolen. Die Handlung selbst ist Symbol. Riten sind symbolische Routinen des Alltags, die einen Übergang in Transzendenz vollziehen. Was heißt das konkret? Idealerweise ist der Mensch, der an einem Ritual teilnimmt, am Ende nicht mehr derselbe, der er zuvor gewesen ist. Durch ein Ritual wird er transformiert und nachhaltig verändert. Aus einem Novizen ist ein Mönch geworden, aus der Gestorbenen eine Bestattete, aus dem ledigen ein verheirateter Mann, aus der Promovendin eine Doktorin.
Absolute Bewusstseinsreduktion
Ein Ritual verhält sich wie eine alltagsweltliche Routine: In der ständigen Wiederholung kann die Bewusstseinsspannung reduziert und die Aufmerksamkeit verschoben werden. Aber: Rituale unterscheiden sich auch von alltäglicher Routine, und zwar in der Art, wie sie eine Bewusstseinsreduktion vornehmen. In der Alltagswelt wird durch Routine der Bewusstseinsfokus verschoben: wenn ich immer denselben Weg zur Arbeit nehme, ein völlig routinierter Vorgang über den ich nicht nachdenken muss, kann ich zum Beispiel schon gedanklich die anstehende Konferenz oder meinen Urlaub planen.
Im religiösen Ritual wird der Bewusstseinsfokus allerdings nicht einfach verschoben (idealerweise zumindest nicht; Im Gottesdienst sollte ich mich nicht damit befassen, ob ich das Bügeleisen wirklich ausgeschaltet habe, oder wie ich den nächsten Workshop gestalten werde…). Der Fokus wird folglich nicht einfach verschoben, sondern grundsätzlich reduziert. Es findet eine „generelle Defokussierung“ (Eberhard Hauschildt im Anschluss an Thomas Luckmann u. Alfred Schütz) statt. Das heißt: Nicht mehr das Ich, das Subjekt steuert, sondern die symbolische Handlung in ihrer Form. Die Handlungsabläufe des Einzelnen werden von den Beteiligten nicht einfach aufgelöst, oder versteckt, sondern aus einer anderen Perspektive wahrgenommen: Als Teil des Ganzen.
Rituale machen das Leben leichter
Ritualen ist ein gewisser institutioneller Charakter eigen. Die Form der Handlung ist gruppenspezifisch normiert sowohl im größeren gesamtgesellschaftlichen oder religiösen Kontext wie z.B. Universität oder Kirche, als auch teilgesellschaftlich wie etwa in Jugendszenen oder unter Fußballfans.
Wir lieben Rituale, weil sie unser Leben einfacher machen, ja weil sie lebensnotwendig sind. Denn wir müssen uns nicht in all unserem Handeln – zumal in individuell heiklen Situationen – immer neu erfinden, sondern können religiös und gesellschaftlich auf bewährte rituelle Handlungsmuster zurückgreifen. In Ritualen wird der Übergang vom Alltäglichen ins Außeralltägliche gestaltet: wenn ein Mensch geboren wird, wenn er stirbt, wenn sich zwei Menschen miteinander verbinden. Rituale nehmen bei der Überwindung solcher lebensweltlicher Grenzen eine wichtige Funktion ein, denn sie sichern das Subjekt, das diese Grenze überschreitet und auch seine Umwelt, die diesen Übergang begleitet. Rituale sind reizvoll, weil man die Gestaltung dieser Übergänge nicht immer wieder neu aus sich heraus erfinden muss, sondern die Form der Handlung eines Rituals diese Umwandlung steuert, den Einzelnen sozusagen mit auf den Weg nimmt.
Banal können sie wirken, wenn die ihr zugrunde liegende Handlung um ihrer selbst willen ausgeführt wird oder wenn es einfach keinen tiefer liegenden, transzendenten Sinn gibt, der erfahrbar werden könnte – eine Problematik vieler, neu designter religiöser und profaner Rituale.
Wir lieben Rituale schließlich, weil sie unserem Leben einen „anderen Sinn“ verleihen, es transzendieren. Die Sehnsucht, dass mein Leben einen Sinn hat, der über das Faktische, das reell Greifbare hinaus geht, dass es sich nicht erschöpft in Geld verdienen und Geld ausgeben – sondern der sinnenfällig macht, dass es ein „Mehr“ im Leben gibt.
nach obeN
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