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Text: Alexandra Kurth  

Alexandra Kurth, Dr. rer. soc., hat an der Philipps-Universität in Marburg Politikwissenschaft, Germanistik und Erziehungswissenschaften studiert. Sie veröffentlichte 2004 im Campus-Verlag das Buch "Männer - Bünde - Rituale. Studentenverbindungen seit 1800".

 
   

 

 

 

„Männer – Bünde – Rituale“

Als ich im Wintersemester 1990/91 mit dem Studium begann, war ich von den vielen Grüppchen bunt bemützter und bebänderter Verbindungsstudenten überall in der Stadt zutiefst irritiert. In Marburg – so schien es zumindest – war es per Aufzug möglich, geradewegs ins 19. Jahrhundert zu reisen. Setzte man seinen Weg durch die Oberstadt vorbei an den vielen beflaggten Verbindungshäusern den Schlossberg hinauf fort, sah man bisweilen im Garten fechtende Studenten und andere Kuriositäten. Aus der Irritation erwuchs die Neugierde eine der letzten geschlossenen Männerbastionen unter die Lupe zu nehmen, denn nach wie vor sind die meisten der etwa 1000 Burschenschaften, Landsmannschaften, Turnerschaften, Corps und anderen studentischen Verbindungen mit mehr als 150 000 Mitgliedern dem eigenen Selbstverständnis zu Folge Männerbünde, in denen Frauen nach wie vor allenfalls als „Coleurdamen“1 und „schmückendes Beiwerk“ geduldet sind.

In den Studentenverbindungen wurde im Laufe der Zeit ein ganz spezifischer Verhaltenskodex entwickelt, schriftlich fixiert im „Comment“, der seit den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts das Verbindungsleben reglementiert und eine Art Ratgeber und Nachschlagewerk für das „richtige“ Verhalten in allen Lebenslagen darstellt: dort war und ist zum Teil bis heute das Verhalten gegenüber Frauen und die Lösung von Konflikten genauso geregelt wie die Modalitäten von Duellen und Mensuren oder die der Kommerse; zudem ist eine Beschreibung der Trink- und anderer Rituale enthalten.

Die Modalitäten des Trinkens sind im Biercomment enthalten, wodurch es dem Einzelnen ermöglich wird, „sich in guter Gesellschaft zu betrinken und zu berauschen“ und zugleich zu lernen, „sich noch im schweren Rauschzustand zu kontrollieren“ und auf diese Weise „die Trinkenden selbst wir ihre Mitmenschen vor den Gefahren der Enthemmung zu schützen“, wie es der Soziologe Norbert Elias in seinen „Studien über die Deutschen“ formuliert hat. In der Anwendung wurden und werden die gesellschaftlichen Regeln durch diejenigen des Biercomments ersetzt, um eine Art „Staat im Staate“ zu schaffen, den man „Bierstaat“ nennt. Dieser ist selbstverständlich ein reiner Männerstaat. Im Biercomment findet sich der „Bierpräses“ ebenso wie „Bierrechte“, auch eine „Bierverschwörung“ ist möglich. Verliert einer im Verlauf des Trinkgelages seines „Bierehre“, landet er im „Bierverschiss“ und muss sich durch ein „Bierduell“ wieder herauspauken. Die „Bierangelegenheit“ kann vor ein „Biergericht“ gebracht werden und wem das Trinken nicht bekommt, kann sich für „bierimpotent“ erklären lassen.

Das Schmunzeln, das sich beim Lesen der Biercomments unweigerlich einstellt, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Anwendung bisweilen ausgesprochen ernsthaft betrieben wird, so dass es kaum möglich ist, durch besonderes Wohlverhalten den Trinkstrafen und dem Trinkzwang, dem vor allem die Jüngeren mehr oder minder ausgeliefert sind, zu entgehen. Bei strikter Anwendung des Biercomment müssen sie lernen, „nachzutrinken“, wenn ein Älterer ihnen zutrinkt, womit eine hierarchische Trinkverpflichtung geschaffen wurde, mit der die eigenen körperlichen Grenzen des Trinkenkönnens oder Trinkenwollens außer Kraft gesetzt werden sollen. Sich einzuschränken ist unmöglich, lautet doch Paragraf elf der meisten Biercomments: „Es wird fortgesoffen!“, so dass Alkoholexzesse nach wie vor zum festen Bestandteil der verbindungsstudentischen Verhaltenskultur gehören.2 Dies beinhaltete, dass in einer Art rituell-kollektiven Kontrollverlust „die Grenzen der gesellschaftlichen Sittlichkeit für alle temporär aufgehoben“ und zugleich „die individuelle Verantwortung aufgelöst“ werden kann, wie es die Schweizer Historikerin Lynn Blattmann prägnant beschrieben hat. Dadurch können sich die Mitglieder jenseits aller altermäßigen oder sonstigen Differenzen einander näher fühlen.

Mit ihren vielfältigen Trink- und anderen Ritualen integrieren die Studentenverbindungen nicht nur Mitglieder im Sinne der von ihnen vertretenen Wertvorstellungen, sie schaffen sie auch auf gewisse Weise neu. Ein junger Verbindungsstudent muss zwar lernen, sich ein- und unterzuordnen, hat im Gegenzug aber die Gewissheit des Aufgehobenseins im Männerbund. Sofern er sich den entsprechenden Regeln und Ritualen unterwarf, war ihm bis in die 1960er Jahre, danach immer mehr abnehmend, die Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Elite sicher, womit er bis ins 20. Jahrhundert hinein partiell sogar an staatliche Gesetze nicht gebunden war.

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1 Seit etwa 1900 werden in Verbindungskreisen diejenigen Frauen als „Coleurdamen“ bezeichnet, die offiziell zu Tanzveranstaltungen oder anderen Festlichkeiten eingeladen werden.


2 Eine Ausnahme bilden die Verbindungen, in denen das Mäßigkeitsprinzip gilt, beispielsweise in den Mitgliedsbünden des Wingolfsbunds.

 

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