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  Startseite Ausgabe 08 | banal - erhaben – Warum wir Rituale brauchen.
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Text: Marion Greve  

Marion Greve, 44 Jahre, ist Pfarrerin in der Evanglischen Erlöserkirchengemeinde in Essen und zweite stellvertretende Superintendantin des Kirchenkreises Essen. Sie hat Evangelische Theologie in Bonn und Göttingen studiert.



 
   

 

 

 

„Rituale aus evangelischer Perspektive“

Rituale nehmen unser Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit auf. Für besondere Situationen im Leben, für Übergänge im Leben haben die christlichen Kirchen bestimmte sich wiederholende Handlungsformen entwickelt. Die Geburt wird mit der Taufe aufgenommen, die Hochzeit mit der kirchlichen Trauung, die Einschulung mit einem besonderen Segensgottesdienst und schließlich werden Sterben und Tod aufgenommen und gestaltet in einem festgelegten Ritual der Bestattung. Rituale schaffen Sicherheit in Situationen voller Unsicherheit.

Leicht nachvollziehbar wird dies im gemeinsam gefeierten Gottesdienst – eine festgelegte Gottesdienstordnung, die Liturgie, vermittelt unterschiedlichen Menschen in fremden Gotteshäusern ein Gefühl der Heimat und Sicherheit - auch angesichts fremder Menschen und fremder Orte.

Im evangelischen Raum ist im Vergleich zu katholischen Kirche das rituelle Verhalten weniger ausgeprägt - zu groß war Jahrhunderte lang die Sorge, das zwischen Mensch und Gott „Mitteldinge“ aufgebaut werden, die heilsnotwenig wären. So ging zum Beispiel der von Luther noch geübte Ritus der Selbstbekreuzigung verloren.

Entscheidend für den evangelischen Umgang mit Ritualen ist das Verhältnis zwischen Freiheit und Ordnung – der Gottesdienst hält sich an sich wiederholende Formen und Abläufe. Es bedarf jedoch zu jeder Zeit der nötigen Freiheit, Abläufe um der Menschen willen zu verändern. Kriterium für die Veränderung ist die Frage, ob das Ritual inhaltlich stimmig und den Beteiligten verständlich ist und von ihnen als sinnvoll empfunden wird.

Auch Riten verändern sich mit der Zeit und ihr Verständnis hängt ab von der Sozialisation der Beteiligten: „Wer nicht in orthodoxer Umgebung aufgewachsen ist, kann schwer verstehen, warum die Art und Weise der Bekreuzigung wichtig sein soll.“ (aus: Eberhard Winkler, Praktische Theologie elementar, 58)

Religiöse Rituale werden in unserer modernen Welt da als bedeutsam erfahren, wo die Selbstverständlichkeit des Alltags in Frage gestellt wird. Wo wir mitten im Alltag an Grenzen stoßen und Krisen erleben. Neben den oben genannten großen Übergangsriten (Geburt, Hochzeit…) erleben wir eine Vielzahl  kleiner Übergangssituationen: berufliche Veränderungen, Umschulungen, Partnersuche, Trennung etc. Diese Brüche im Lebenslauf sind weniger seltene Ausnahmeerscheinung als vielmehr fester Bestandteil. „´Kontinuität´ist eher das Unwahrscheinliche“ (Henning Luther, Religion und Alltag, 219).
Leben heißt grundsätzlich in Übergängen zu leben.

In der rituellen Begleitung und Gestaltung dieser vielen kleinen Übergänge liegt die große Chance der Kirchen: im bereits oben genannten Sinne der Stabilisierung genau so wie im Sinne der Gestaltung der Unterbrechung und der Nachdenklichkeit.
Ein in letzterem Sinne gestalteter Ritus nimmt die Krise im Alltag wahr. Er hilft, die Krise auszuhalten, sie auszuformulieren, anstatt sie zu überspielen, zu vertuschen oder zu ignorieren.

Genau deshalb brauchen wir religiöse Rituale nicht nur mit Blick auf die klassischen Übergänge im Leben.

Wir brauchen religiöse Rituale  an den Bruchstellen des Lebens (wie z.B. ein Scheidungsritual, bei dem Familie und Freunde die Beendigung der Ehe begleiten und um den Segen Gottes für die neuen Lebenswege bitten).

Ein evangelischer Umgang mit Ritualen zeichnet sich auf der Basis unserer kirchlichen Ordnung dadurch aus, dass wir zu allen Zeiten um der Menschen willen festgelegte Ordnungen hinterfragen und nicht bewährte und weiterhin hilfreiche Traditionen aufgeben – im Sinne des ersten Briefes des Paulus an die Thessalonicher:
„Prüft aber alles, und das Gute behaltet.“ (1 Thess 5,21)

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